Der Spaziergänger von Aleppo
Miniaturen
»Der Spaziergänger von Aleppo ist ein heilsamer Gang über einen Weg aus Asche, der poetische Atem eines Wesens, das aus seinem Inneren leuchtet.« Le monde diplomatique
Niroz Malek lebt in Aleppo. Trotz allem. Und er schreibt davon, wie es ist, trotz allem in Aleppo zu leben. Das Ergebnis sind kurze Texte, Miniaturen nicht nur über den Alltag in einer Stadt, auf die Bomben fallen, sondern auch Träume, Phantasien, Texte zu Musik und Literatur, Erinnerungen an gestorbene Freunde und Weggefährten. 57 Miniaturen sind in diesem Buch versammelt, die meisten hat Niroz Malek zuerst auf Facebook veröffentlicht, bis heute schreibt er dort in unregelmäßigen Abständen sehr kurze Texte. An eine Publikation in Syrien war und ist nicht zu denken.
Niroz Malek ist alles andere als ein Reporter des Schreckens, er ist der Intellektuelle, der Schriftsteller, dessen Welt Jahrhunderte an Kultur umfaßt. In dieser Welt lebt er, mit seinen Büchern, Bildern und Schallplatten, und diese Welt kann und will er nicht verlassen. Er streift durch Aleppo, durch die Trümmer und Ruinen, umgeht Straßensperren, versucht vergeblich, einen Soldaten daran zu hindern, einen Jungen mit Down-Syndrom zu erschießen, bloß weil das Kind nicht erfaßt, daß es stehenbleiben soll. Er liest die Namen der Getöteten an den Hauswänden, während er in sein Stammcafé geht, um seinem Alltag einen Anschein von Normalität zu geben. Und er schreibt, weil ihn das am Leben hält. Neben all dem geschilderten Elend ist dieses Buch gleichzeitig auch ein Zeugnis für die Kraft der Kultur, die hilft, auch in der schlimmsten Barbarei die menschliche Würde zu bewahren.
»Der Spaziergänger von Aleppo ist ein heilsamer Gang über einen Weg aus Asche, der poetische Atem eines Wesens, das aus seinem Inneren leuchtet.« Le monde diplomatique
Niroz Malek lebt in Aleppo. Trotz allem. Und er schreibt davon, wie es ist, trotz allem in Aleppo zu leben. Das Ergebnis sind kurze Texte, Miniaturen nicht nur über den Alltag ...
Vorwort
Nach dem Krachen einer heftigen Detonation, die die Fenster meines Zimmers erbeben ließ, hörte ich auf zu schreiben. In Erwartung einer zweiten Detonation horchte ich eine Weile, dann stand ich von meinem Tisch auf und fragte mich: »Wo mag die Bombe wohl explodiert sein?« Und gab sogleich die Antwort: »Offenbar ganz in der Nähe ...«
Ich ging in die Küche, stellte mich in die Mitte und fragte mich wieder: »Was hat dich jetzt in die Küche verschlagen? Willst du dir selbst beweisen, daß die Kämpfe nun in deiner Wohnung stattfinden?« Ich wußte keine Antwort. Beunruhigt kehrte ich in mein Zimmer zurück, um weiterzuschreiben. Da fragte sie: »Und? Willst du nicht wie die anderen Menschen Dokumente und Habseligkeiten für die Flucht in deinen Koffer packen? Du unterscheidest dich doch nicht von all den anderen, die aus den zerbombten Stadtvierteln fliehen.«
Ich sah sie an und dachte über ihre Worte nach. Dann lächelte ich und erwiderte: »Kannst du etwa glauben, daß ich meine Wohnung verlasse? Daß ich meinen Tisch zurücklasse, an dem ich gearbeitet und meine Geschichten und Romane geschrieben habe? An dem ich die Cover für meine Werke entwarf und Hunderte und Aberhunderte Bücher las?« Ich sagte zu ihr: »Ich werde meine Wohnung nicht verlassen. Was immer auch geschieht, ich werde nicht fortgehen.«
Sie lachte – trotz eines Anflugs von Sorge, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete – und sagte: »Alles, was du erwähnt hast, ist ersetzbar. Nur das Leben nicht ...«
»Von welchem Leben sprichst du?« fragte ich. »Sprichst du über die Tage, die vorbeizogen? Sprichst du darüber? Oder über jenes Leben, das ich in all diesen Büchern gelassen habe, die ich las? Und in all den Freundschaften, die ich schloß, nicht nur mit den Autoren, sondern auch mit den Protagonisten. Mit jenen Helden, mit denen ich viele Tage und manchmal sogar monatelang lebte ... Mit einigen habe ich gar mehr als ein Jahr lang meine Abende verbracht. Sag es mir!« erwiderte ich. »Wie soll ich mich von Nagib Machfus verabschieden, wie König Lear seinem Schicksal überlassen? Wie sollte ich nicht versuchen, Hamlet zu überreden, sein Zögern zu überwinden oder seine Philosophie aufzugeben, an die ich keinen einzigen Tag glaubte? Wie kann ich all die Gespräche mit Raskolnikoff über die göttliche Strafe und die Strafe des Gesetzes vergessen, die ein menschlicher Richter verhängt? Und diese kleinen Statuen von Puschkin und Gogol, diese Fotos von Tschechow und Hemingway, wer wird sie verteidigen? Und wer wird diese Schallplatten von Beethoven, Tschaikowsky und Rachmaninow vor der Zerstörung retten? Sag es mir!« wiederholte ich. »Wie kann ich meine Wohnung verlassen, aus meinem Zimmer fortgehen?« Dann setzte ich hinzu, nachdem ich ein paar Mal geschluckt hatte: »Warum? Um meinen Körper zu retten? Du solltest wissen, daß das, was ich in diesem Raum zurücklasse, nicht nur Bücher und Antiquitäten und Fotos sind. Nein, ich lasse meine Seele zurück.« Schließlich erklärte ich: »Kann ein Körper ohne Seele leben? Aus diesem Grund werde ich meine Wohnung nicht verlassen: Weil ich meine Seele nicht in einen noch so großen Koffer stopfen kann. Meine Seele ist all das, was du in meinem Zimmer siehst ... Tausende Bücher. Hunderte Schallplatten, Zeichnungen, Gemälde und Fotos.« Ich sagte zu ihr: »Geh du, rette du dich. Aber ich bleibe hier, in meiner Wohnung, solange meine Seele weiterlebt.«
Niroz Malek wurde 1946 in Aleppo geboren. Er hat bislang acht Bände Erzählungen und sechs Romane veröffentlicht. »Der Spaziergänger von Aleppo« erschien zuerst auf Französisch bei Le serpent à plumes. Das Buch wurde mit dem Prix Lorientales 2016 ausgezeichnet und inzwischen auch ins Schwedische übersetzt.
Die Übersetzerin, Larissa Bender, ist u.a. Herausgeberin des Bandes »Innenansichten aus Syrien«. Sie lebt und arbeitet in Köln.
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- Artikel-Nr.: SW9783959880749