Schäfers Stunde
Erzählungen
Schäfers Stunde.
Ist sie glücklich, ersehnt? Gar eine Schäferstunde? Immerhin hat Schäfer ja wohl drei Frauen kennengelernt bei jenem Heiratsball in Herberts Kneipe, als das Bier so gewaltig floss.
Oder eine Stunde der Gefahr, der Bewährung? Die letzte Stunde? Eine gute, eine geschlagene?
Auf jeden Fall: Schäfers Stunde. Geschichten werden hier erzählt, über Schäfer und andere, aus der Heidelandschaft und der Großstadt, von Liebe und Arbeit, den Sorgen und Freuden des Aufwachsens und Altseins. Ein Stift - er fühlt sich schon beinahe als richtiger Zimmermann - muss von einem Tag zum ändern »unter lauter Weibern« bestehen. Und:
Die alte Patzeln zittert vor Anstrengung, weil sie den Schutzgeist eines unschuldigen Kindes zu ihrem letzten Sohn an die Front auf den Weg zwingen will. Ein Achtzigjähriger blickt manchmal bekümmert an seinem Sohn vorbei; woher rührt seine Enttäuschung? Die alte Hanna - sie hat es gut bei ihrer Enkelin - »streuselt« an einem unfreundlichen Januartag durch die Großstadt und sucht: Zuwendung. Heiteres und nachdenklich Stimmendes, Komisches und Tragisches, große Zeitfragen und Alltag vermischen sich in diesen Lebensstunden.
Das fesselnde Buch erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig. Die Erzählung „Weiberwirtschaft“ wurde 1983 von der DEFA verfilmt (Regie und Drehbuch: Peter Kahane).
INHALT:
Kurzer Weg
Unsichere Entfernung
Schäfers Stunde
Weiberwirtschaft
Die Dusche
Hickhack vor Jahren
Mützenwetter
Feier des Tages
Lila Schimmer
Stadtgang
Kurzer Weg
Unsichere Entfernung
Schäfers Stunde
Weiberwirtschaft
Die Dusche
Hickhack vor Jahren
Mützenwetter
Feier des Tages
Lila Schimmer
Stadtgang
Ich und pokern, empörte sie sich. Was glauben Sie von mir. Meine Zahlen bedeuten etwas. Ich weiß es noch wie heute. Die Wally, was die Verkäuferin in unserem Dorfkonsum war, kam gerannt und rief: Komm schnell, Telefon, dein Manfred ist am anderen Ende. Was ist bloß passiert, denke ich, und renn’, so wie ich bin, ohne Kopftuch und in Schürze ’rüber. Nicht so schlimm, sagt mein Junge, beruhige dich, ich hör’ ja per Draht, wie du pustest. Bloß, Andrea ist ein bisschen krank. Angina oder so. Sie hat Fieber. Nicht hoch. Neununddreißig. Wir haben gedacht, es geht ’runter, weil wir doch ans Schwarze Meer wolln. Der Arzt sagt, wir können das Kind nicht mitnehmen. Soll die Reise nun verfallen? Oder könntest du ...? Natürlich kann ich, sag’ ich, fahrt ihr mal. Es ist zwar schade, dass Andrea nicht mitkann, aber ich freu mich auf sie. Hab’ doch niemanden mehr, den ich betun kann, seit Albert ... dein Vater unter der Erde ist. Du müsstest zu uns kommen, Mama, sagt Manfred, für Andrea wäre es zu anstrengend. Sie hat neununddreißig Fieber, weißt du. Na sicher, sag’ ich. Und er: Aber dann müsstest du gleich losfahren, unser Flugzeug geht morgen früh. Wir haben bis zuletzt gewartet, weißt du. Aber mit neununddreißig ... Junge, sag’ ich, mach dir doch keine Sorgen. Ich komme, sobald ein Zug fährt ... Und als ich merke, dass er sich beruhigt, als er mir die Abfahrtszeiten durchgibt, da hab’ ich Schaf doch tatsächlich keinen anderen Gedanken im Kopf als das Geld. Kriegst du denn was zurück, wenn Andrea nicht mitfliegt? Mal sehen, sagt Manfred, wir haben uns vom Arzt ein Attest geben lassen. Bis bald.
Ich hänge auf und denke: Dann ist ja alles in Ordnung. Also fahr’ ich hin, mein Sohn und meine Schwiegertochter machen sich auf die Reise, und Andrea sitzt schon am selben Mittag im Bett und verlangt Eierkuchen, meine Spezialität. Abends messe ich Fieber. Siebenunddreißig sechs. Ich streichle das Mädchen und sag’: Da werden wir uns ein paar schöne Tage machen. Ha!
Hanna zog die Tasche mit einem Ruck vor die Brust. Sie schwieg, starrte an Rudi vorbei in die Dämmerung, wo sie die Konturen auflöste, und sprach schließlich mit der Stimme einer Fremden weiter.
Das Geld ist dann auch gekommen, sagte sie. Das Geld ... Was sonst kam ... die Särge, die waren nicht zu öffnen. Sie werden vielleicht davon gelesen haben. Es war wohl das erste Flugzeugunglück überhaupt bei uns. Und gleich alle tot. Die Urlauber und die Besatzung ...
Herr Seifert, voreilig zufrieden, hatte sich schon vor diesen Sätzen auf den Weg hinter die Ladentafel gemacht. Nun blieb er stehen. Stand auf eine Art, die erkennen ließ, dass es ihm schwerfallen würde, den nächsten Schritt zu tun. Doch die Tür schepperte, ein Kunde kam. Da musste er schon. Aber etwas von Herrn Seifert blieb am runden Tisch; er vereinigte sich erst wieder zu dem ganzen Mann, nachdem der Kunde bedient und gegangen war.
Furchtbar, sagte Herr Seifert. Dann schwieg auch er. Sah hinüber zu Rudi. Der fuchtelte nicht, hatte auch dem Tischbein keine Botschaft mitzuteilen. Die Rettung musste aus Herrn Seifert selber kommen. Er besann sich auf heilende Wirkung der Zeit. Warten Sie mal, grübelte er, das ist doch auch schon seine fünfzehn Jahre her. Oder sechzehn?
Er forschte in Hannas Gesicht nach einer Antwort.
Die saß immer noch aufrecht, die Tasche zwischen den knochig gespannten Fingern, die Augen auf die Wand gerichtet, alle Falten vom Schatten ausgefüllt und die Lippen im Mund verborgen.
Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.
Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.
Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.
Auszeichnungen:
1971 Alex-Wedding-Preis,
1977 Heinrich-Mann-Preis
1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)
1986 Kunstpreis des FDGB.
Bibliografie (Auswahl)
Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963
Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964
Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965
Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965
Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967
Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969
Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971
Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976
Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976
Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978
Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981
Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981
Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983
Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983
Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984
Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985
Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986
Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)
Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990
Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001
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- Artikel-Nr.: SW9783863941833