Ein seltener Fall von Liebe
Erzählungen
Insgesamt acht Erzählungen finden sich in diesem Buch. Geschichten, die von Liebe handeln. Liebesgeschichten – oder auch von ihrem Gegenteil. Aber wie nennt man dann solche Geschichten? Nicht-Liebesgeschichten? Oder Geschichten ohne Liebe? Jedenfalls geht es in diesen acht Erzählungen um die Liebe in sehr verschiedenen Varianten, darunter auch um einen seltenen Fall von Liebe.
„Ein seltener Fall von Liebe“, welcher dem ganzen Buch den Titel gibt, ist die letzte der acht Geschichten. Ein Gastwirt erzählt von einem dramatischen Ereignis, das aber auch irgendwie mit Liebe zu tun hat. Ein seltener Fall von Liebe eben: „Von mir erfahren Sie nichts. Ich hab alles gesagt. Die Sache ist im Sande verlaufen, nun soll sie ruhen. Wolln Sie noch ein Bier? Ich sag bloß, und das hab ich schon damals gesagt: Es war ein Unfall. Jawoll. Wenn Sie, wie ich, dreißig Jahre eine Dorfschenke betreiben, dann kriegen Sie einen Blick dafür, was ernst ist und was Spaß. Das damals sollte Spaß sein, wenigstens Teil zwei der Vorstellung. Na gut, ein böser Spaß.
Ernst wurde die Geschichte erst, als der Ast brach. Der Baum ist sonst gesund.
Untersuchung muss natürlich sein. In solchen Fällen immer, das versteht sich. Hier, Ihr Bier. Ich trink auch eins mit, bloß meine Alte darfs nicht spitzkriegen. Wissen Sie, ich mach erst um fünf auf, dafür gehts jede Nacht bis um halb eins. Wenn Sie da schon am frühen Nachmittag anfangen, einen zu zwitschern, halten Sie nicht durch. Dann muss meine Alte hinter die Theke, und das hat sie nicht gern.“
Jemand ist zu Tode gekommen. Aber warum? War es ein Unfall? War es Selbstmord? Und da dieser Jemand keine Angehörigen hatte, wurden für ihn eine Annonce in der Zeitung gesammelt und die Worte: „Tragischer Unglücksfall“ eingerückt. Aber was steckt dahinter? Hat es vielleicht mit Frauen zu tun? Mit Liebe? Und beim letzten Versuch, da war die Frau, auf die er es abgesehen hatte, wohl nicht zu Hause. Und dann hört man noch eine ganz andere Erklärung und die ganze Geschichte nimmt eine überraschende Wendung: „Wie bitte? Sie sind wirklich nicht von der Kripo? Sie wollen die Geschichte aufschreiben? Das lassen Sie mal hübsch bleiben. Wer soll denn so was lesen? Trinken Sie lieber noch ein Bier mit mir, es ist nun wirklich das letzte. Ich muss aufschließen, Bruno hat schon die Hand auf der Klinke.“ Ja. Bruno war jetzt Rentner und legt viel Wert auf das Einhalten gesetzlicher Öffnungszeiten.
Kleine Fische
Alte Bräuche
Sanfte Kopfwäsche
Eishacken
Die Neuigkeit
Die kluge Grete
Die Riesenrolle
Ein seltener Fall von Liebe
Herr Finke ist Lehrer für Mathematik und Sport, Er hat gelernt, alles zur rechten Zeit zu tun: Unterricht vorbereiten und halten, Schüler ermahnen und anspornen, Hefte korrigieren, Hilfestellung geben und auf der Trillerpfeife pfeifen - das füllt den ganzen Tag. Wo ist bei solch vielen Aufgaben Platz für Erinnerungen?
Es könnte höchstens sein, dass einer in der vierten Klasse sitzt, der so ist, wie Herr Finke einmal war. Etwa Tonio. Der eigentlich Anton heißt, aber diesen Namen aus begreiflichen Gründen nicht mag. Den manche Toni rufen, was aber zur Verwechslung mit Mädchen führen kann. Der sich also wünscht, dass man ihn Tonio nennt. Herr Finke tut es. Denn Tonio ist sein Sorgenkind, sowohl in Mathematik als auch in Sport. Und Herr Finke würde gern noch mehr tun, wenn er damit erreichen könnte, dass die schlechten Noten hinter Tonios Namen im Klassenbuch verschwinden. Vielleicht würde Herr Finke sogar jene Geschichte erzählen, selbst wenn er damit auch die unangenehmen Erinnerungen weckte.
Doch erst will er einmal sehen, wie sich Tonio am Reck macht. Der Felgaufschwung will nicht klappen. Tonio gibt sich Mühe, er fasst zu, holt tief Luft, will sich schon hochschwingen — da sieht er sich im letzten Moment fliegen, um die Reckstange herumwirbeln und fliegen, weit hinaus in die Turnhalle. Er fühlt, noch bevor er sich den kleinsten Ruck gegeben hat, den Schmerz des Aufpralls aus großer Höhe. Ihm werden die Hände feucht, die Knie weich, und aus dem Aufschwung wird ein müder Hänger. Selbst Herr Finke bekommt den schlappen Körper nicht über die Stange. Kurz und traurig pfeift Herr Finke auf der Trillerpfeife.
Was war los, Tonio?
Nichts, Herr Finke.
Versuch’s noch mal, Tonio!
Lieber nicht, Herr Finke.
Warum nicht?
Ich sah mich fliegen, Herr Finke. Ich flog und knallte aus großer Höhe zu Boden. Nun hab ich Angst.
Du wirst nicht fliegen. Das bildest du dir nur ein.
Ich weiß. Aber nun hab ich Angst.
Das ist dann so ein Augenblick, in dem Herr Finke die Geschichte am liebsten erzählen möchte. Ihm tut Tonio leid, denn er weiß, aus solchen Niederlagen werden später die unangenehmen Erinnerungen. Aber es ist viel zu laut in der Turnhalle für Geschichten. Und Herr Finke wartet doch erst die nächste Mathematikarbeit ab. Vielleicht schafft Tonio diesmal wenigstens eine schwache Drei. Bis jetzt hatte er fünf Vieren.
Fünf Vieren, Tonio, was soll das werden?
Ich weiß auch nicht, Herr Finke.
Wenn du wenigstens die Einer unter die Einer, die Zehner unter die Zehner und die Hunderter unter die Hunderter schreiben würdest. Du kannst doch rechnen! Du hältst bloß keine Ordnung.
Kann sein, Herr Finke.
Wo hast du nur deine Gedanken gehabt, als wir die Arbeit schrieben?
Draußen sang ein Pirol, Herr Finke.
Jetzt mitten im Winter?
Es war mir so. Ich hab ihn deutlich gehört. Und da sind mir die Zehner unter die Hunderter gerutscht.
Du hast auch über den Rand geschrieben, Tonio. Und deine Zahlen sehen aus, als hätte sie eine Henne in den Sand gescharrt.
Keine Henne, Herr Finke. Ein Pirol.
Joachim Nowotny entstammt einer Arbeiterfamilie. Er absolvierte eine Lehre als Zimmermann und arbeitete in diesem Beruf. 1954 legte er an einer Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Reifeprüfung ab und studierte anschließend bis 1958 Germanistik an der Universität Leipzig. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Verlagslektor. Seit 1962 lebt er als freier Schriftsteller in Leipzig. Von 1967 bis 1982 wirkte er als Dozent am dortigen Literaturinstitut Johannes R. Becher.
Joachim Nowotny ist Verfasser von Erzählungen, Romanen, Hör- und Fernsehspielen. Den Schwerpunkt seines Werkes bilden Kinder- und Jugendbücher; thematisch ist er eng mit seiner Heimatregion, der Lausitz, verbunden. Nowotny behandelte als einer der ersten DDR-Autoren am Beispiel des Lausitzer Braunkohle-Tagebaus Themen wie Landschafts- und Umweltzerstörung.
Joachim Nowotny ist seit 1990 Mitglied des Verbands Deutscher Schriftsteller.
Auszeichnungen:
1971 Alex-Wedding-Preis,
1977 Heinrich-Mann-Preis
1979 Nationalpreis der DDR (II. Klasse für Kunst und Literatur)
1986 Kunstpreis des FDGB.
Bibliografie (Auswahl)
Hochwasser im Dorf, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1963
Jagd in Kaupitz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1964
Hexenfeuer, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1965
Jakob läßt mich sitzen, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1965
Labyrinth ohne Schrecken, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1967
Der Riese im Paradies, Der Kinderbuchverlag, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1969
Sonntag unter Leuten, Mitteldeutscher Verlag, Halle (S.) 1971
Ein gewisser Robel, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1976
Die Gudrunsage, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1976
Ein seltener Fall von Liebe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1978
Abschiedsdisco, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1981
Letzter Auftritt der Komparsen, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1981
Die Äpfel der Jugend, Aufbau Verlag, Berlin 1983
Ein Lächeln für Zacharias, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1983
Der erfundene Traum und andere Geschichten, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1984
Schäfers Stunde, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 1985
Der Popanz, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1986
Wo der Wassermann wohnt, Domowina Verlag, Bautzen 1988 (zusammen mit Gerald Große)
Adebar und Kunigunde, Der Kinderbuchverlag, Berlin 1990
Als ich Gundas Löwe war, Faber & Faber, Leipzig 2001
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- Artikel-Nr.: SW9783863941437