Sturm über dem Rheintal
Die Erbin des Windes
Deutschland, Ende des 21. Jahrhunderts: Nur ein Teil der Menschheit hat die verheerende Klimakatastrophe überstanden. Ein stabiles Sturmsystem umkreist die Erde und die Menschen haben gelernt im Rhythmus des Sturmes zu leben.
Die 14-jährige Etienne kennt nur diese Welt, in der riskante alternative Technologien das Überleben sichern. Als ein wichtiger Funknetzknoten in der Umgebung von Etiennes Heimatort Ehrenkirchen ausfällt, will Etienne diesen mit ihren Freunden Vincent und Kagi reparieren. Nach der Expedition verhalten sich Etiennes Freunde merkwürdig. Als noch ein seltsamer Kult Anschläge verübt, beginnt Etienne nachzuforschen. Immer wieder führen alle Spuren zum Funknetzknoten – und zu ihren Freunden. Und plötzlich ist sogar Etiennes Leben in Gefahr …
»Sturm über dem Rheintal: Die Erbin des Windes« ist Michael Erles packende dystopische Vision Deutschlands nach der Klimakatastrophe.
Kapitel 1
Niemals auseinander gehn
Mein Name ist Etienne. Ja, ich weiß, dass das ein Jungenname ist. Beschwert euch bei meiner Mutter.
Am Tag unseres Rendezvous zog ein Sturm auf. Graubraune Wolkenbänder strebten über den Himmel, so nah, als müsste man nur den Arm ausstrecken, um sie zu berühren. Kagi war überzeugt, dass er nördlich an uns vorbei geht. Aber Kagi irrt sich gerne mal. Ich konnte sehen, dass wir genau in der Bahn des Auges lagen. Also bestand ich darauf, zum Schutzraum zu gehen. Ich habe sogar spielerisch an Kagis Kette gezupft, um meiner Entscheidung Nachdruck zu verleihen. Er mag das nicht, die glänzenden Titanglieder sind nur schwer wieder in Form zu bringen, wenn sie einmal aufgerissen sind. Aber ich hatte keine Lust, so lange mit ihm zu debattieren, bis auch er einsah, dass wir nicht im Freien bleiben konnten. Manchmal muss ich eben für uns beide denken.
Wie üblich fuhren die Admins das Funknetz herunter, als die Windstärke EF4 auf der Enhanced Fujita-Skala erreichte. Kagi und ich saßen in der verschachtelten Betonröhre am Südhang des Kaiserstuhls, und wir steckten unsere Geräte weg, als wir die Meldung bekamen, dass die Verbindung eingestellt worden war. Über Satellit muss man wirklich nicht connecten. Zu langsam, die ganzen interessanten Dienste werden nicht angeboten. Lieber unterhielten wir uns.
Wir hatten beide unsere Brillen aufgesetzt, ich meine Mouche-Style mit dem verbeulten schwarzen Gazenetz, Kagi seine neuen Steampunks. Zum Glück war sonst niemand hier, vor allem keine Erwachsenen. Ich wäre eher gestorben, als Helm zu tragen, egal welche Regeln sie uns schon im Kindergarten für EF4 beibringen. Was keiner sieht, das bereitet keinen Ärger, und so konnten wir uns in Würde unterhalten ohne auszusehen wie zwei Türstopper. Doch zuvor musste ich meiner Mutter noch eine Nachricht schicken, wo ich bin und dass es mir gut geht. Kagis Eltern unterrichtete ich zur Sicherheit auch.
Also redeten wir. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich biss mir auf die Unterlippe und wartete, dass Kagi von sich aus etwas sagte. Ich lasse ihn manchmal kaum zu Wort kommen– aber ihm zuzuhören ist, als ob man durstig unter einem Eiszapfen liegt und mit ausgestreckter Zunge wartet, dass wieder ein Tropfen fällt. Er ist nicht verstockt oder unwillig. Er ist nur wirklich langsam, kein großer Redner.
Männer!
Das erste, was er erzählte, waren Geschichten aus der Arbeit im Rückbau/Recyclage-Shop. Kagi leistet einen Teil seiner Praktischen Dienste dort. Anfang der Woche war ein defekter Algenreaktor geliefert worden, ein tonnenschweres Ding aus Karbonstahl und Kunststoff. Seine Schäden waren nicht bekannt, und so mussten sie es in seine Einzelteile zerlegen. Nach jeder einzelnen Schraube, die Kagi löste, musste der Block wieder in den Nano/Bio-Scanner, damit sichergestellt war, dass nicht eine der Kulturen leckte oder depolarisierte Beschichtungspartikel frei wurden. Es würde noch Wochen dauern, bis der Reaktor auseinandergebaut war.
Erst als Kagi das alles geschildert und ich mein Verständnis für seine Frustration ausgedrückte hatte, kam er endlich zum interessanten Stoff. Offenbar hatte ihm eine von den Afrikanerinnen schöne Augen gemacht. Eine Gruppe von Neuankömmlingen war seit einer Weile schon im R&R, und wie üblich dürfen wir Praktiker sie einlernen. Wir können wenigstens ein bisschen mit ihnen reden, und ich meine nicht nur die Sprache – Swahili, Arabisch, Amahrisch, Yoruba. Birgül und ich haben mal unsere Vokabeln gezählt und sind auf 2.000 gekommen.
Natürlich suchen die ‘Kaner hier nach Freunden. Die Klügeren wissen, dass sie den Tunnelghettos nicht entkommen, außer sie heiraten einen von uns oder sind zumindest lange genug mit ihm zusammen, dass sie an der Oberfläche Kontakt finden, lernen, sich integrieren. Ein paar sind ganz nett. Aber alle haben einen an der Waffel. Ich schätze, wenn man sich bis hierher durchgeschlagen hat, Freunde und Familie auf dem Weg sterben sieht, dann kriegt man einen Schaden weg.
Sie hieß Nazyia, und obwohl sie es nicht wissen konnte, war sie nicht Kagis Typ. Das erkannte ich an der Art, wie er von ihr sprach – er erwähnte die Narben an den Armen, aber nicht die Figur, schilderte anerkennend, wie sie einen der schweren Träger gestemmt hatte, sagte aber nichts über ihre Schultern. Die Schultern sind immer wichtig für meinen Jungen, jedes Mal, wenn wir ein Mädchen treffen, dass einen langen Oberkörper und ein breites Kreuz hat, heißt es aufpassen. Aber wegen Nazyia musste ich mir keine Sorgen machen.
Mittlerweile wallte der Staub in großen, blumigen Wolken durch die Tunnelröhre. Die dumpfen Aufschläge von fliegenden Trümmern auf der Außenseite der Betonschale gingen im Geräusch des Windes unter. Wir drückten unsere Atemmasken dicht an Mund und Nase und kuschelten uns aneinander. Das Tosen des Sturms hat auf mich fast eine hypnotische Wirkung. Ich schlafe besser, wenn ich davon nicht völlig abgeschottet bin. Meine Mutter hat mir erzählt, dass mein Babybettchen immer an der Außenwand stand. Die schlimmsten Unwetter haben mich nicht geweckt, meine Eltern hatten nie die dunklen Sturmringe unter den Augen, an denen man sonst junge Väter und Mütter erkennt, wenn eine Orkanfront durchgegangen ist. Auch Kagi nickte ein, und so dösten wir, mein Kopf auf seinem Schoß, zwei Stunden lang.
Kagi weckte mich. Der Sturm hatte nachgelassen, das Heulen war beinahe verstummt und ich konnte keine Treffer auf unserer Betonmuschel hören. Wir konnten nach Hause gehen.
Wir ließen uns Zeit, bevor wir ins Freie traten, streckten uns, klopften den Staub aus Haaren und Kleidern. Kagi nahm sogar seine Brille ab und putzte sie. Seine Augen waren rot, er blinzelte. Ich hatte ungefähr ein Kilo Dreck in der Nase, die Schleimhäute fühlten sich an wie Hanfjute. Meine Schläfen pochten schmerzhaft. Wir tranken unser Wasser, dann warf ich einen Blick durch den verschachtelten Eingang des Schutzraums. Die Sonne schien; davor hatte ein Regenguss, der auf der Schleppe des Unwetters geritten war, den Staub aus der Luft gespült. Alle Farben glänzten wie ein neues Display.
Mit einem verlegenen Schulterzucken setzten wir unsere Helme auf. Die Phase haben wir hinter uns, wo wir aus reiner Bravade selbst die sinnvollsten Vorsichtsmaßnahmen missachten. Sollen sich die anderen Vierzehnjährigen den Schädel verzieren lassen – ich habe genug Narben, und Kagi braucht für sein männliches Aussehen mehr Kinn und ein paar Kanten, nicht Löcher in der Stirn. Trotzdem neckten wir uns gegenseitig ob des Anblicks, den wir boten.
»Käfer!« – »Cafard!« – »Lass uns mal eine Mistkugel rollen.«
Es ist komisch, ich habe noch nie einen Mistkäfer in Natura gesehen – Hunderttausend Videodateien und Images natürlich – und sicherlich auch kein anderer in E-Kirchen oder Fribourg. Aber weil die Metapher so gut passt, reden wir ständig darüber. Wir gehen mistkäfern. Faire le bousier.
Die Luv- und Leeseite von großen Windbremsen wie dem Schutzraum sind nach einem EF4 oder EF5 ein guter Ort, um Recyclage zu suchen. Windaufwärts bleiben die großen, schweren Trümmer zurück, die gegen die Außenwand krachen. Im Windschatten deponieren die Scherwirbel kleinere Teile auf einem Haufen, der wie eine schneckenförmige Düne geformt ist. Wir durchwühlten beides, vorsichtig, dass nicht ein instabil in der Höhe gelagertes Stück sich löste und uns traf. Deswegen sind die Helme hinterher genauso wichtig wie während des Sturms. Es gibt nichts Peinlicheres als eine Beule bei Windstille.
Wir machten unsere Rucksäcke voll mit den besten Stücken und gaben uns gegenseitig jeden Fund in die Hand, um ihn zu begutachten. Die nanobeschichteten Teile – Windräder, Flügel, Mechaniken, Antennenteile, Schutzkappen – sind an ihrer einheitlich grauschwarzen Farbe gut zu erkennen.
Man muss aber trotzdem genau hinsehen. Ich möchte nicht die Stelle verpassen, an der die kratzfesten Polymergewebe doch aufgebrochen sind. Man erkennt es deutlich, wenn der Zerfall erst einmal ein, zwei Stunden vorangeschritten ist; die purpurnen Farbpartikel, die zur Warnung vor genau diesem Schaden in den Fasern eingekapselt werden, sind auch mit dem bloßen Auge gut zu erkennen. Mit einer UV-Lampe kann man sogar kleinste, frische Kratzer sehen, die keine zwei Minuten alt sind. Aber wir hatten keine Lampe, wir mussten uns auf unsere Sinne verlassen, und auf einander.
Fünf Teile steckten wir in eine versiegelbare Klarsichttasche, weil sie uns merkwürdig vorkamen. War das Dreck, Lack oder das Signalrot eines Schadens? Sollten die im R&R sie identifizieren. Ich will nicht mit dreißig Nanokrebs kriegen. Was soll Kagi denn ohne mich machen? Außerdem habe ich Angst. Mein Vater hat den Krebs als das Schmerzhafteste beschrieben, was er je erlebt hat.
Deswegen war ich froh, dass Kagi die Tüte in seinen Rucksack nahm. Das ist nicht nobel von mir, schon klar. Aber ich war nie sehr mutig, und wenn man sich seine eigenen Schwächen nicht verzeiht, wie soll man dann die der Anderen ertragen?
Zusammen überprüften wir danach noch den Schutzraum auf Schäden und verdienten uns mit unserer Meldung darüber ein paar Karmapunkte in der Gemeinde. Der Bunker war natürlich unversehrt, für so alltägliche EF4 ist er ausgelegt, doch um den Sicherheitsprotokollen gerecht zu werden, hätte sich jemand auf den Weg machen müssen, um die Betonmuschel zu inspizieren. Jemand kann sich das jetzt sparen, und wir können uns das nächste Mal vielleicht davor drücken.
»Das Netz ist immer noch im Sturmmodus«, bemerkte Kagi missmutig, als er unsere Meldung eingab.
Ich warf einen Blick auf das Display meines Geräts. Tatsächlich stand nur das Symbol für den Satelliten im Einbindungsfeld, unser Funknetz schlummerte als »zu Sicherheitszwecken inaktiv« in der zweiten Ebene dahinter.
»Paranoide Bande!«, schimpfte ich. »Weit und breit kein Wind über 80 km/h, aber bestimmt gibt es irgendeine alte Richtlinie, die von den Admins mal wieder hyper-pingelig eingehalten wird. Wir dürfen dafür in der digitalen Provinz leben. Vielen Dank.«
Michael Erle, Jahrgang 1972, ist Autor, Musiker, PR-Profi und Journalist. Seine Veröffentlichungen erstrecken sich über verschiedene Genres, von Science Fiction und Fantasy über Thriller bis hin zu Musical-Libretti. Im Eridanus Verlag erschien von Michael Erle der dystopische Science-Fiction Roman »Sturm über dem Rheintal: Die Erbin des Windes«.
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- Artikel-Nr.: SW9783946348115