Meteor
Terra-Utopia - Band 1
Sie wollen nicht länger einsam sein – sie überwinden den Tod und die Unendlichkeit
Ein Meteor stürzt nahe einer amerikanischen Stadt auf die Erde. Eine Gruppe Wissenschaftler bricht zur Einschlagstelle auf, um den Meteorit zu untersuchen. Und sie Entdecken unglaubliches: der Meteorit birgt mehr als ein Geheimnis.
Custerbrad Leon war allein.
Er stand am Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Obwohl am Himmel Millionen Sterne glitzerten, war es stockfinster. Der Mond schien nicht, und die Laternen waren ausgeschaltet. Nur umrisshaft konnte der alte Mann die Häuserfronten am gegenüberliegenden Straßenrand ausmachen.
Nichts regte sich dort draußen. Die Straßen waren wie leergefegt, die Gebäude verlassen. Nirgends parkte ein Auto, nirgends brannte Licht. Kein Laut war zu hören, es herrschte eine unheimliche Stille.
Dunkelheit und Stille.
Custerbrad Leon war der einzige Mensch, der sich noch in der Stadt aufhielt.
Er wandte sich um und tastete sich durch die Finsternis. Auch hier im Haus brannte kein Licht, denn es gab keinen Strom mehr, und Kerzen waren nicht zu finden.
Leon erreichte einen Sessel und ließ sich seufzend hinein sinken. Es knirschte, als sein Gewicht das Polster niederdrückte. Das Geräusch wirkte unnatürlich laut, und ein Schauer lief über den Rücken des Alten.
Custerbrad Leon hatte Angst. Als alle anderen ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammengepackt und die Stadt fast fluchtartig verlassen hatten, war er zurückgeblieben. Sie hatten ihn gedrängt, hatten etwas von einer Gefahr erzählt, die die Stadt bedrohte, aber er hatte sich im Keller verkrochen, die Türen hinter sich verriegelt und niemanden an sich herangelassen. Da hatten sie schließlich aufgegeben und waren ohne ihn abgezogen. Nun war er allein.
Er war ein Einzelgänger. Schon in seiner Jugend hatte er sich zurückgezogen in eine eigene, heile Traumwelt. Er hatte sich abgekapselt von der Umwelt. Als er dann die Schulzeit beendet und eine Lehre angetreten hatte, merkte er, dass er ohne andere Menschen nicht auskam, dass er sie und den Kontakt zu ihnen brauchte, um erfolgreich zu sein. Aber da war es bereits zu spät. Für die anderen war er ein weltfremder Träumer.
So wurde er zum Außenseiter. Die Menschen verstießen ihn. Mädchen und Frauen kümmerten sich nicht um ihn, er war ihnen gleichgültig.
Er begann zu trinken, zuerst wenig und selten, dann immer öfter und regelmäßiger. Er wurde zum Säufer. Er verlor seinen Job und fand keine Arbeit mehr. Tagsüber trieb er sich in Kneipen herum, wo er mit gestohlenem Geld bezahlte, nachts schlief er auf einer Bank in irgendeinem Park.
Bis er eines Tages aufgegriffen wurde. Er wanderte ins Gefängnis, wo er sechs Jahre seines Lebens wegen mehrfachen Diebstahls und Landstreicherei verbrachte. Als die Strafzeit vorüber war, nahm sich sein Bruder seiner an.
Leon wohnte von da ab im Hause seines Bruders in einer kleinen Dachgeschosswohnung. Er trank nicht mehr, er gammelte nicht mehr. Aber er war noch immer der Einzelgänger und Außenseiter.
Im Alter von 53 Jahren starb der Bruder. Sein Sohn, inzwischen selbst erwachsen und Familienvater, übernahm das Haus und den Onkel. Er kümmerte sich um Custerbrad Leon und besorgte ihm sogar Arbeit. Aber es war nicht die Arbeit, die dem Außenseiter Spaß gemacht hätte.
Wohl verrichtete er sie, aber er kapselte sich weiter ab. Nach seiner Pensionierung zog er sich völlig zurück. Nur selten trat er in Erscheinung, meistens hielt er sich in seinem Hobbyraum auf und malte Ölbilder.
Mit zunehmendem Alter ließ auch seine Geisteskraft merklich nach. Er vermochte Zusammenhänge nicht mehr klar zu erkennen, kurz, er verkalkte langsam. Dem Neffen blieb dies natürlich nicht verborgen und er, der dem Einzelgänger zu Anfang tatkräftig geholfen und zur Seite gestanden hatte, kümmerte sich nicht mehr um ihn. Er zeigte dem Alten sogar recht deutlich, dass er unerwünscht und lästig war.
Der Außenseiter bemerkte das natürlich und zog sich immer weiter in sich zurück.
Dann, eines Tages, plötzlich und überraschend, wurde die Stadt evakuiert. Die Familie des Neffen wollte den Alten mitnehmen. Aber Custerbrad Leon spürte, dass er nur eine Last sein würde, und weigerte sich, mitzugehen. Er wollte allein bleiben. Es war ihm gleichgültig, was mit ihm geschah. Sollte doch die Erde aufbrechen und ihn verschlingen, es würde ihm nichts ausmachen.
Sie ließen ihm seinen Willen. Zwar redeten sie ihm gut zu, aber sie unternahmen nichts, um ihn zum Mitkommen zu zwingen. Sie ließen ihn allein.
Nachdem es still geworden war, hatte Custerbrad Leon sein Versteck im Keller verlassen und war hinauf in die Wohnung seines Neffen gegangen. Draußen dämmerte es bereits. Nirgends war ein Mensch zu sehen.
Es wurde Nacht. Der alte Mann wunderte sich, dass die Straßenlaternen nicht leuchteten, und als er im Haus Licht machen wollte, stellte er fest, dass es keinen Strom mehr gab.
Leon versuchte zu schlafen, aber es gelang ihm nicht. Nun bereute er es, dass er nicht mitgegangen war. Eine Gefahr bewegte sich auf die Stadt zu, eine Gefahr, von der er nicht wusste, wie sie aussah. Irgendwann in dieser Nacht würde ein Unglück geschehen, das hatte sein Neffe prophezeit.
Je später es wurde, desto ängstlicher wurde der Alte. Immer öfter tastete er sich zum Fenster und starrte hinaus. Und immer wieder musste er die Sinnlosigkeit seines Tuns erkennen, denn draußen war es so finster, dass seine Augen nicht mehr als verwaschene Schemen wahrnehmen konnten.
Dunkelheit und Stille.
Was würde geschehen? Wann würde es geschehen?
Custerbrad Leon atmete schwer und zitterte. Er überlegte, ob er das Haus verlassen und fliehen sollte. Aber dann sagte er sich, dass dies keinen Sinn haben würde. Er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Und jede Sekunde konnte das Unglück über die Stadt hereinbrechen. Nein, eine Flucht hatte keinen Zweck mehr. Dazu war es zu spät. Er konnte jetzt nur noch abwarten, was geschah - und hoffen, dass er selbst ohne Schaden das Unglück überstehen würde.
Custerbrad Leon war allein.
Und wartete.
2.
„Name?“
„Marcus Leon.“
„Angehörige?“
„Gattin Evelyne und Sohn Thomas.“
Der Inspektor notierte die Angaben auf einer Liste und blickte auf.
„Danke“, sagte er und kaute auf seiner Zigarre. „Sie nehmen bitte Maschine 14.“
„Wohin bringt man uns?“ fragte Marc.
„Keine Ahnung. Mir obliegt nur die Registrierung.“
Marc nickte dankend und setzte sich in Bewegung. Seine Frau und Thomas folgten ihm.
Maschine 14 stand am linken Rand des Landefeldes. Es war ein altes, verbeultes Düsenverkehrsflugzeug. Mit schweren Lastwagen waren sie hierher transportiert worden, gemeinsam mit vielen anderen Einwohnern der Stadt. Zusammengepfercht hatten sie im Laderaum des Wagens gestanden. Mehrere Stunden hatten sie so verbracht, während der Laster sie aus der Gefahrenzone fuhr. Hier, auf dem Flughafen, wurden sie registriert und dann einer bestimmten Maschine zugewiesen.
Sie erreichten die Gangway und betraten das Flugzeug. Eine Stewardess wies ihnen Plätze an. Marc war erleichtert und schnallte sich an. Neben ihm, am Fenster, saß seine Frau und blickte hinaus auf das Landefeld. Sie war sehr schweigsam, seit sie die Stadt verlassen hatten, ganz anders als sonst.
Eine Sitzreihe vor ihnen, ebenfalls am Fenster, saß Thomas, ihr neunzehnjähriger Sohn. Er war, wie seine Mutter, auffällig ruhig in den letzten Stunden gewesen.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Maschine startete. Marc wurde zunehmend unruhiger. Wohin brachte man sie? Was würde mit ihnen geschehen, wenn der Meteor tatsächlich die Stadt verwüstete? Würde man sie entschädigen für das verlorengegangene Eigentum?
Er seufzte. Die Antwort auf alle Fragen lag im ungewissen. Niemand konnte mit Sicherheit Voraussagen, wie die Ereignisse ablaufen würden.
Es knackte leise in dem kleinen Lautsprecher über ihren Köpfen, dann ertönte eine tiefe, ruhige Stimme. „Guten Abend, meine Damen und Herren! Hier spricht der Kapitän. Ich begrüße Sie an Bord und wünsche Ihnen einen angenehmen Flug. Wir werden etwa zwei Stunden in der Luft bleiben und dann in der Nähe der Wüste von Nevada landen. Dort werden Sie in Großraumtransporter umsteigen und in ein Ausweichquartier in der Wüste gebracht. Es handelt sich um einen unterirdischen Gebäudekomplex, der eigens für Katastrophenfälle gebaut wurde. Sie brauchen nicht zu befürchten, dass Sie dort etwa wie Tiere in Käfigen leben müssen. Im Gegenteil, soweit ich informiert bin, ist alles ziemlich großzügig angelegt und auf das Wohlergehen jedes einzelnen ausgerichtet. Aber das werden Sie selbst noch feststellen, wenn Sie angekommen sind. Bis dahin stehen Ihnen unsere Stewardessen zur Verfügung. Nochmals guten Flug!“
„Ich glaube ihm kein Wort!“ sagte ein älterer Herr einige Sitzreihen hinter Marc. „Die wollen uns verschaukeln!“
„Woher willst du das wissen?“ antwortete eine Frauenstimme. „Wenn wirklich so ein Riesenstein aus dem Weltraum auf unsere Stadt fällt, möchte ich so weit wie möglich davon entfernt sein.“
„Riesenstein! Aus dem Weltraum! Pah!“ Der Mann hustete. „Wer das glaubt, muss verrückt sein! Ich will dir mal was sagen, Martha. . .“ Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, so dass Marc ihn nicht mehr verstehen konnte.
Er wandte sich seiner Frau zu, die immer noch schweigend aus dem Fenster blickte.
„Eve!“ sagte er und tippte ihr auf die Schulter. „Was hast du? Warum bist du so still?“
Sie drehte sich um und blickte ihm in die Augen.
„Wir hätten Onkel Chad nicht zurücklassen sollen“, flüsterte sie, damit niemand außer ihrem Mann sie verstehen konnte. „Das war nicht richtig von uns.“
„Aber er wollte nicht mit!“ verteidigte sich Marc. „Du weißt doch, dass er sich eingeschlossen hat. Was sollten wir denn tun?“
„Wir hätten die Tür aufbrechen sollen oder die Polizei verständigen müssen“, sagte sie etwas heftiger als beabsichtigt. „Und wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass es dir ganz recht war, dass er nicht mitwollte. Es war eine gute Gelegenheit, ihn abzuschieben.“
„Aber...“
„Er war uns allen lästig“, fuhr Eve fort. „Mit seiner ewigen Fragerei und seinem dummen Gerede ging er uns auf die Nerven. Aber durften wir ihn deswegen dem Tod preisgeben?“
„Wer redet denn davon! Es ist noch gar nicht bestimmt, dass der Meteor genau auf die Stadt fällt.“
„Trotzdem! Die Möglichkeit ist gegeben, sonst hätte man uns nicht zu evakuieren brauchen. Ich mache mir die schwersten Vorwürfe.“
Er packte sie an den Schultern. „Es wird ihm schon nichts passieren! Du wirst sehen, wenn wir zurückkommen, ist er noch quietsch fidel.“
Sie blickte weg.
„Hoffentlich!“ sagte sie.
Thomas, der ihr Flüstern gehört hatte, drehte sich um.
„Geht es um Onkel Chad?“ fragte er.
„Sei still!“ sagte Marc heftig. „Ich will nichts mehr davon hören.“
„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Thomas und drehte sich um.
Marc schloss die Augen. Warum machten ihm seine Frau und sein Sohn Vorwürfe? Sie waren doch selbst mitschuldig! Nicht er, Marc, hatte den alten Mann allein gelassen, sondern sie alle drei! Onkel Chad war jetzt 76 Jahre alt. Lange hatte er ohnehin nicht mehr zu leben, er, der Einzelgänger, ohne Kontakt zu anderen Menschen. Was sollte so ein Mensch noch auf der Welt? War es nicht besser, wenn er starb?
Verdammt, warum muss ich so etwas denken? Marc war über sich selbst erschüttert.
Jeder der Passagiere hatte in diesen Augenblicken seine eigenen Probleme, wichtige und unwichtige, große und kleine. Inzwischen flog das Flugzeug ruhig über den Wolken dahin, seinem Ziel entgegen.
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- Artikel-Nr.: SW9783961273805458270
- Artikelnummer SW9783961273805458270
-
Autor
Detlev G. Winter
- Verlag Novo Books im vss-verlag
- Seitenzahl 102
- Veröffentlichung 25.05.2024
- ISBN 9783961273805
- Verlag Novo Books im vss-verlag