Ein Stück deutsch-russische Geschichte, fantastisch erzählt - Wolgakinder von Gusel Jachina

Es gibt Bücher, die sind einfach nur episch. Und sie sind zudem so besonders, dass man sie nicht nur als E-Book lesen, sondern auch als Buch im Regal stehen haben möchte. Wolgakinder von Gusel Jachina zählt für mich zu diesen besonderen Büchern in 2019.

Eingeladen von der russischen Zarin Katharina der Großen siedelten sich im 18. Jahrhundert Deutsche rund um die Wolga an. Diese später Wolgadeutschen genannten blieben unter sich, sprachen kaum Russisch und lebten auch im 20. Jahrhundert oft noch so einfach und rückständig wie zu Beginn ihrer Ansiedlung in Russland. Mit der Ausrufung der Sowjetunion wurden die Wolgadeutschen auf einmal zum politischen Spielball: Lenin förderte ihre Autonomie, um mit ihrer Hilfe in Deutschland für den Kommunismus zu werben. Später dann war es Stalin, der ihnen Verrat vorwarf und sie deportierte.

Es geht um die Geschichte der Wolgadeutschen in diesem Roman, allerdings nicht so, wie man es von historischen Romanen gewohnt ist. Jachina erzählt vor allem vom Schicksal einer einzelnen wolgadeutschen Familie tief in den Wäldern im Nirgendwo, die persönlichen Geschicke der Familie sind aber immer raffiniert mit den großen, weltpolitischen Ereignissen verknüpft.

Die Geschichte der Familie Bach beginnt in den 1920ern. Jakob Iwanowitsch Bach, Dorfschullehrer von Gnadental, ist ein Eigenbrötler, wie er im Buche steht. Dinge, die vom gewohnten abweichen, wie etwa ein beschädigter Zaun, machen ihn nervös.

„Wenn Bach bei seinem Rundgang etwas entdeckte, das nicht in Ordnung war – einen vom Schneesturm umgeworfenen Pfahl am Schlittenweg oder ein schiefes Brückengeländer, dann litt er an diesem Wissen. Die enorme Aufmerksamkeit machte Bachs Leben zur Qual, denn jede Störung der gewohnten Umwelt versetzte ihn in Aufregung.“Auszug aus: Gusel, Jachina (2019): Wolgakinder. E-Book-Ausgabe


In seiner Freizeit schließt er sich am liebsten in sein Zimmer ein und beschäftigt sich mit deutschen Dichtern und Denkern:

„Er wollte den Rest des Tages im Hause verbringen, seine Kleider ausbessern und dabei über Novalis nachdenken.“Auszug aus: Gusel, Jachina (2019): Wolgakinder. E-Book-Ausgabe


Doch ausgerechnet in seiner Kammer, seinem Refugium, überrascht ihn ein Brief, der ihm zum Verhängnis wird: Bach soll auf einem abgelegenen Gehöft einer jungen Frau Deutschunterricht geben.

Schon die Reise zum Gehöft wird zum mysteriösen Ausflug. Ein großer, grobschlächtiger Mann bedrängt Bach dazu, seine hinter einem Sichtschutz versteckte Tochter zu unterrichten. Bach will sich der Situation entziehen, doch die Natur hält ihn auf dem Gutshof fest.

Die Geschichte bleibt stets realistisch, Jachinas Erzählweise dabei ist aber öfter fantastisch, magisch realistisch. So wie der Dorfschullehrer Novalis bewundert, scheint es fast so, als würde Jachina mit ihrer ganzen Erzählung ein wenig Anleihe an der deutschen Romantik nehmen. Von der Stimmung her erinnert Wolgakinder an Bücher wie Adalbert Stifters Bergkristall oder auch Märchen von E.T.A. Hoffmann.

Vom Inhalt her ist die Erzählweise aber modern und erfrischend, denn auch wenn man weiß, dass es in diesem Roman eine Familiengeschichte geht, ist nie absehbar, was als nächstes passiert.

Mittendrin hat Wolgakinder vielleicht einige Längen und sprachlich ist es manchmal herausfordernd, trotzdem macht die magisch-realistische Erzählweise und die ungewöhnliche Geschichte Wolgakinder zu einem besonderen Roman abseits des Mainstream.

 


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