Rezension: "Gestalten der Tiefe" von Julia Armfield

Unheimlich, eindringlich und melancholisch: In "Gestalten der Tiefe" verschwimmen Horror, Trauer und Liebe miteinander. Ein kurzer Roman darüber, wie ein traumatisches Erlebnis die Beziehung zweier Frauen auf eine existentielle Probe stellt. 

 

Cover Julia Armfield: Gestalten der Tiefe

Julia Armfield: Gestalten der Tiefe

Erscheinungsdatum: 02.09.2024 - Verlag: Kommode Verlag - Seitenzahl: 245

Meeresbiologin Leah sinkt bei einer Forschungsreise im U-Boot mit ihrem Team auf den Ozeanboden ab und bleibt nach dem Unfall sechs Monate lang verschollen. Als Leah wieder nach Hause kommt, ist ihre Frau Miri überglücklich. Doch schnell wird Miri klar, dass Leah sich verändert hat.

Julia Armfield gelingt es, die Liebesbeziehung dieser zwei Frauen mit all ihren Facetten darzustellen: die Verleumdung aus Selbstschutz, die zarten Empfindungen, Rituale, Wut und Trauer um entschwundene Freuden, all die kleinen Momente, aus denen eine innige und dauerhafte Liebe besteht. Stilsicher, hervorragend und abgrundtief ehrlich.

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"Our Wives Under the Sea" auf Deutsch: Der Horror-Roman erschien 2022 und ist nun unter dem Titel "Gestalten der Tiefe" auch bei uns erhältlich. Bevor ich etwas zum Roman sage, muss ich eine kurze Kritik loswerden: Das Cover passt zwar thematisch schon irgendwie zum Buch, aber ein richtiger Blickfang ist es nicht. Meiner Meinung nach geht der Vibe des Buches durch das gewählte Motiv vollkommen verloren. Auch der deutsche Titel ist an sich passend, aber klingt mehr nach Horrofilm als Songtitel, wie der englische Originaltitel. Was zählt, ist letztendlich der Inhalt - ich hoffe nur, dass aufgrund des Designs nicht zu viele Leute das Buch gar nicht erst in Erwägung ziehen, wenn sie daran vorbeigehen.

 

 

Rezension zu "Gestalten der Tiefe" von Julia Armfield:

Gestalten der Tiefe ist eine Erzählung, die auf verstörende Weise die Grenzen zwischen Liebe, Verlust und Horror auslotet. Auf den ersten Blick handelt es sich um die Geschichte eines Paares, dessen Beziehung nach einem schrecklichen Erlebnis der einen Person ins Wanken gerät. Es handelt sich aber nicht um Horror, wie ihn z.B. Stepehn King schreibt. Es ist subtiler, und der eigentliche Horror ist eher psychologierer Natur und wird gar nicht groß erläutert. Der Fokus sind die Folgen, die Veränderung und Entfremdung der beiden Liebenden und die Frage: Was passiert, wenn die Person, in den ich mich verliebt habe, nicht mehr dieselbe ist?

Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt: In Form von Flashbacks erfahren wir von Miri mehr über die Vergangenheit des Paares. Sie zeichnet das Bild einer harmonischen Beziehung, die in ihrer Beschreibung fast so roh und echt ist, wie in Sally Rooneys Roman "Normal People". Im starken Kontrast dazu steht die Gegenwart. Hier wird Miri zur Chronistin des schleichenden Verfalls ihrer Beziehung und auch ihrer Frau. Die wachsene emotionale Distanz und Miris Verzweiflung sind nahezu greifbar. Leah spricht kaum mit ihr und zieht sich in sich selbst zurück, während Miri nur hilflos zusehen kann, wie Leah immer mehr zu einem Schatten ihrer selbst wird.

Auf der anderen Seite steht Leah. Sie ist Wissenschaftlerin und sollte mit einem kleinen Team auf eine dreitägige Tiefseeexpedition aufbrechen. Aber schon kurz nachdem das U-Boot zu Wasser gelassen wird, beginnen Dinge schiefzulaufen und der Kontakt zum Team an der Oberfläche bricht ab. Aus drei Tagen werden 6 Monate. Leahs Kapitel erzählen von der Zeit im U-Boot und was die Zeit unter Wasser, gefangen in einem U-Boot, mit ihr und ihrem Team macht. Der Roman ist vielleicht nicht unbedingt geeignet für Thalassophobiker. 

In der Gegenwart ist Leah lethargisch, verbringt viel Zeit in der Badewanne und isst kaum. Miri weiß nicht, was sie tun soll. Sie ist wütend, weil Leah ein halbes Jahr verschollen war und nun nicht über diese Zeit reden will. Andererseits fühlt sie sich schuldig wegen ihrer Wut und versucht, sich mit der Situation zu arrangieren und Leah einfach Zeit zu geben.

Was den Roman für mich so besonders macht, ist die poetische Sprache, aber auch die Verweigerung klarer Antworten. Für mich ist Gestalten der Tiefe ein Roman über Trauer und Loslassen. Der psychologische Horror rückt dabei schon fast in den Hintergrund. Ist Leahs Erlebnis in der Tiefsee wirklich real oder symbolisiert es eher die Transformaion, die jede lange Beziehung durchläuft? Miris Sehnsucht nach der alten Leah wird zu einem bewegenden Porträt der Hilflosigkeit. Armfield schildert eine tiefe, intensive Liebe, während zeitlich die Spannung aufrecht erhalten und eine bedrückende, klaustrophobische Atmosphäre geschaffen wird.

Klare Antworten gibt es nicht, aber viel Raum für Interpretation. Gestalten der Tiefe ist einer der beeindruckensten Romane, die ich dieses Jahr gelesen habe. Das Buch ist ideal für alle, die subtile Horror-Geschichten mögen, die weniger auf Schockeffekte und mehr auf emotionale Erschütterung setzen.

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