Rezension: "Piranesi" von Susanna Clark

Susanna Clarke schafft mit Piranesi eine faszinierende Welt, die mit poetischer Tiefe und philosophischen Fragen zur Realitität und Identität spielt. Ein Roman, der entweder einen bleibenden Eindruck hinterlässt oder gar nicht gefällt.

 

Cover Susanna Clarke: Piranesi

Susanna Clarke: Piranesi

Erscheinungsdatum: 05.10.2020 - Verlag: Heyne Verlag - Seitenzahl: 272

Der neue Roman der Bestsellerautorin von »Jonathan Strange & Mr Norrell« Ein riesiges Gebäude, in dem sich endlos Räume aneinanderreihen, verbunden durch ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen. An den Wänden stehen Tausende Statuen, das Erdgeschoss besteht aus einem Ozean, bei Flut donnern die Wellen die Treppenhäuser hinauf. In diesem Gebäude lebt Piranesi. Er hat sein Leben der Erforschung des Hauses gewidmet. Und je weiter er sich in die Zimmerfluchten vorwagt, desto näher kommt er der Wahrheit – der Wahrheit über die Welt jenseits des Gebäudes. Und der Wahrheit über sich selbst.

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Rezension zu "Piranesi" von Susanna Clarke:

Piranesi lebt in einem labyrinthartigen Haus. Dieses Haus ist scheinbar endlos und besteht aus unzähligen Hallen und Räumen, die mit Statuen gefüllt sind. Diese Statuen bilden ganz alltägliche Dinge ab, aber auch msytische Gestalten. Das Untergeschoss ist von einem gewaltigen Ozean durchzogen, der gelegentlich die Räume überflutet, während sich im Obergeschoss die Wolken sammeln. In einigen Hallen sind die Böden oder Decken durchbrochen und alle paar Räume gibt es große Treppenhäuser.

Piranesi führt ein sehr einfaches, kontemplatives Leben und beschäftigt sich damit, das Haus zu erkunden und seine Geheimnisse zu entschlüsseln. Er glaubt, dass er der einzige Bewohner ist, außer einer mysteriösen Figur, die er den Anderen nennt und die dreizehn Skelette von ihm unbekannten ehemaligen Bewohnern. Alles in allem gibt es in Piranesis Welt also 15 Personen. Der Andere, mit dem sich Piranesi manchmal trifft, bringt ihm gelegentlich neue Kleidung oder Schuhe. Im Tausch hilft ihm Piranesi mit seinem gesammelten Wissen über das Haus und geht für ihn auf Erkundungstur. Woran der Andere genau arbeitet, weiß Piranesi nicht; nur, dass ein Ritual durchgeführt werden und besonderes Wissen erlangt werden soll. Doch nach und nach beginnt Piranesi, Hinweise zu entdecken, die darauf hindeuten, dass es in seiner Welt mehr gibt, als er zunächst angenommen hat. Es scheint, als wäre seine Existenz vielleicht nicht so, wie er sie bisher verstanden hat. Warum kann er sich zum Beispiel nicht daran erinnern, einige Tagebucheinträge geschrieben zu haben, obwohl sie eindeutig in seiner Schrift verfasst sind? Und wie lange lebt er eigentlich schon in dem Haus - warum weiß er, dass er etwa 35 sein muss, kann sich aber nicht an seine Kindheit erinnern? Wenn wir unsere Vergangenheit nicht vollständig kennen oder uns falsch erinnern, wer sind wir dann wirklich?

In diesem Sinne ist Piranesis Reise nicht nur eine äußere, physische Erkundung des Hauses, sondern auch eine innere Suche nach seiner eigenen Identität und Wahrheit. Das Buch thematisiert neben der Frage der Identität auch die Wichtigkeit von Erinnerungen für das Selbst und die Wahrnehmung der Realität. Piranesi akzeptiert das Labyrinth des Hauses und seine surreale Natur als sein Universum, aber als ihm zunehmend mehr Ungereimtheiten auffallen und plötzlich eine weitere Person Spuren im Haus hinterlässt, wirft ihn das in eine Krise.

Während des Lesens musste ich immer wieder an das Höhlengleichnis von Platon denken. Im Höhlengleichnis beschreibt Platon eine Gruppe von Menschen, die ihr gesamtes Leben in einer Höhle verbringen und nur Schatten an den Wänden sehen können. Diese Schatten halten sie für die gesamte Realität, da sie nichts anderes kennen. Ähnlich lebt Piranesi in einer Welt – dem Haus – die er als seine vollständige Realität begreift. Im Gleichnis sind die Menschen an die Höhle gebunden und können sich nur durch eine radikale Veränderung ihres Bewusstseins aus ihr befreien. Sie müssen ihr vertrautes, aber eingeschränktes Weltbild aufgeben, um eine größere Wahrheit zu erkennen. Auch Piranesi ist auf eine Weise gefangen – nicht durch körperliche Fesseln, sondern durch seine eigene beschränkte Wahrnehmung und das Wissen, das ihm zur Verfügung steht. Dies wirft weitere Fragen darüber auf, was Freiheit wirklich bedeutet: Ist es die Abwesenheit von physischen Grenzen, oder kann auch eine geistige Gefangenschaft existieren?

Aber ich stellte mir auch die Frage, ob man das ganze nicht umgekehrt betrachten könnte: Ist vielleicht unserer Welt die Höhle und wir sind von materiellen und oberflächlichen Strukturen gefangen, während das Haus eine Art spirituelle Realität darstellt und Piranesi es geschafft hat, das loszulassen, was ihn vorher eingeschränkt hat? Das Haus in "Piranesi" könnte als ein symbolischer Ort der Transzendenz verstanden werden, in dem die physische und spirituelle Realität auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben sind. Piranesi lebt in Harmonie mit diesem Raum, was ihm eine tiefere Einsicht in die Strukturen des Seins gibt, als es die Bewohner der "realen" Welt je erreichen könnten. Im Haus ist Piranesie vollends glücklich. Das Labyrinth des Hauses symbolisiert in gewissem Sinn dann die komplexen Strukturen des Seins, die der oberflächlichen Wahrnehmung verborgen bleiben, aber durch geduldige Erkundung und Reflexion aufgedeckt werden können. Piranesi ist in diesem Sinne nicht "eingesperrt", sondern privilegiert, Zugang zu einer Realität zu haben, die anderen verschlossen bleibt – eine Art Initiierter in das Geheimnis des Universums. Was der Andere noch vergeblich sucht, hat Pirensi längst erlangt. Das würde zumindest erklären, warum so viele nach dem Zugang zum Haus suchen.

Piranesi ist eine etwas andere Lektüre. Das Buch regt zum Nachdenken und interpretieren an. Wenn man den Roman einfach so als Wochenendlektüre lesen will, ohne den Kopf einschalten zu müssen, kann der Surrealismus etwas irritierend wirken. Ich habe viele Meinung zu dem Buch gelesen, in dem von Unverständnis und Verwirrtheit die Rede war – das Buch sei zu abgedreht, um gut zu sein. Susanna Clarke spricht mit diesem Werk vielleicht nicht gerade den Massenmarkt an, aber wer tiefgründige und leicht mysteriöse Geschichten mag oder ein Fan von philosophischen, das Gehirn anregende und symbolischen Geschichten ist, sollte Piranesi unbedingt eine Chance geben.

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