Circe, Helena, Medusa: Die griechische Mythologie ist voll von Frauen, aber nie schlüpfen sie selbst in die Rollen der Erzählerin. Meistens wird über sie berichtet, in kurzen Legenden oder epischen Gedichten. Sie werden besungen oder verteufelt und dienen meistens als der kleine Stein, der eine viel größere Lawine auslöst oder ein winziges Zahnrad in einer viel größeren Maschine, das eine Aufgabe zu erfüllen hat, aber dem keine Origin-Story gewidmet werden muss.
Wer die Odysee kennt, kennt auch Circe. SIe verliebte sich in Odysseus, der an den Ufern ihrer Insel gestrandet war und verwandelte seine Mannschaft in Schweine. Letztendlich lässt sie ihn und seine Gefährten - natürlich zurückverwandelt - dann aber doch wieder ziehen. Bei Homer verweilt Odysseus ein Jahr bei ihr als Gast, bei Hesiod noch länger und Circe gebährt ihm drei Söhne, von denen einer letztendlich versehentlich Odysseus töten wird. Circe soll auch dafür verantwortlich sein, dass aus der Nymphe Scylla letztentlich das bekannte Monster wurde und auch Iason, Medea und die Argonauten begegnen ihr. Aber letztendlich ist sie nur eine Nebendarstellerin: ein Stopp auf dem Weg zum Ziel oder die böse Hexe, die Unschuldige in Tiere und Monster verwandelt, weil sie ihr im Weg stehen.
In "Ich bin Circe" erzählt erstmal die Zauberin selbst, wie sie zu dem wurde, was wir alle kennen. Madeline Miller versteht es auch in ihrem zweiten Roman hervorragend, die Sprache als ein Instrument zu nutzen und malt mit ihren Worten Geschichten, die einen bittersüßen Klang hinterlassen. In ihrem Debütroman "Das Lied des Achill", der 2011 erschien, nutzte sie die Gelegenheit, neues Licht auf bereits bekannten Stoff zu werfen. Patroklos und Achill erhalten dabei eine Tiefe, die in den Werken Homers und Co. bisher schlichtweg fehlte. Auch in "Ich bin Circe" schafft Miller es, ein realistisches Bildnis einer Sagengestalt zu schaffen, über die außer ihren Leistungen - oder eher Missetaten - nicht viel bekannt ist. Millers Affinität zur Mythologie kommt aus dem Studium der Altphilologie, das die Autorin abschloss. Sie unterrichtet Latein und Griechisch und beschäftigt sich privat ausführlich mit antiken Sagen.
Aber nun zum Roman: Circe ist die Tocher von Helios und der Nymphe Perse. Schon als Kind war sie "anders". Hässlich, mit einer krächzenden Stimme - sagt ihre Familie. Ihre Mutter verschmähte sie, ihr Vater beachtete sie nicht weiter. Ihre Cousins und Cousinen lachten über sie, selbst ihre Geschwister behandelten sie nicht wie eine Schwester, eher wie ein Haustier. Circe ist unglücklich und fühlt sich unter den Göttern nicht wohl. Zum ersten Mal Hoffnung auf ein besseres Leben entwickelt sie, als sie dem Fischer Glaucos begegnet. Doch ihre Liebe wird nicht erwidert, nicht einmal dann, als sie ihn mithilfe einer Pflanze zu einem Gott macht. Stattdessen macht er der Nymphe Scylla schöne Augen und Circe nutzt die Pflanzen erneut, um Scyllas wahres Gesicht zu offenbaren. Circe wird infolgedessen auf die Insel Aiaia verbannt. Und so beginnt das Leben der Circe, Jahrhunderte nach ihrer Geburt.
Circe erzählt mit Humor und Sarkasmus von ihrem Leben und ihrem Werdegang und verwebt mehrere Mythen zu einer großen Geschichte. Kenntnisse der Legenden sind dabei nicht nötig und so kann der Roman auch von allen genossen werden, die sich mit der Thematik noch nicht beschäftigt haben. Aber Achtung: Das Buch macht Lust auf mehr und es kann durchaus passieren, dass Sie sich beim Lesen in den Tiefen des Internets verlieren, weil Sie einige Namen nachschlagen wollten. Circe bezirzt die Leser und Leserinnen mit ihrer Art und ihrer Menschlichkeit - obwohl sie eine Göttin ist, zeigt sie sich oftmals menschlicher als die Sterblichen, denen sie begegnet. Aus dem verschmähten, schüchternen Mädchen wird eine selbstbewusste Frau, die sich von ihren Ketten löst und immer mehr zu sich selbst findet. Es ist nicht einfach nur die Nacherzählung einer Legende, es ist die Geschichte einer starken Frau, die endlich ihr Potential ausschöpfen kann, die wächst und lernt und dabei selbst den Göttern trotzt.
Das Buch kleidet die alten Legenden in eine neue, moderne Tunika. "Ich bin Circe" ist ein rebellischer und auch feministischer Blick auf die griechische Sagenwelt.
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