Die Gegen-Demokratie
Politik im Zeitalter des Misstrauens
Obgleich das demokratische Ideal uneingeschränkt bejaht wird, stehen die Systeme, die sich auf das Ideal berufen, immer heftiger in der Kritik. Doch diese Differenz ist nicht so neu, wie sie scheint: Historisch betrachtet ist die Demokratie immer schon als Versprechen und Problem zugleich in Erscheinung getreten. Denn der Grundsatz, Regierungen durch den Wählerwillen zu legitimieren, ging stets mit Misstrauensbekundungen der Bürger gegenüber den etablierten Mächten einher.
Die Gegen-Demokratie ist nicht das Gegenteil von Demokratie, sie ist Bestandteil der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, somit permanenter Ausdruck von Misstrauen gegenüber den gewählten Institutionen. Gleichzeitig ist sie aber auch Ausdruck des politischen Engagements der Bürger_innen jenseits der Wahlurnen. Der Begriff Gegen-Demokratie hebt das Widersprüchliche des Misstrauens hervor, das einerseits die Wachsamkeit der Bürger_innen fördert und auf diese Weise dazu beiträgt, die staatlichen Instanzen für gesellschaftliche Forderungen empfänglicher zu machen, das andererseits aber auch destruktive Formen von Ablehnung und Verleumdung begünstigen kann. Das heißt: Die Gegen-Demokratie bestätigt nicht nur, sie kann auch widersprechen.
Rosanvallon entfaltet die verschiedenen Aspekte von Gegen-Demokratie und schreibt ihre Geschichte. Nicht zuletzt plädiert er dafür, die ständige Rede von der Politikverdrossenheit zu überdenken. Denn es ist eher von einem Wandel als von einem Niedergang des bürgerschaftlichen Engagements zu sprechen. Verändert haben sich lediglich das Repertoire, die Träger und die Ziele des politischen Ausdrucks. Die Bürger_innen haben inzwischen viele Alternativen zum Wahlzettel, um ihre Sorgen und Beschwerden zu artikulieren. Die politische Form der Gegen-Demokratie sollte im Diskurs der Politikverdrossenheit nicht unterschätzt, sondern aktiv genutzt werden.
Pierre Rosanvallon ist Professor für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France. Er ist einer der international renommiertesten Forscher zur Geschichte der Demokratie und Souveränität sowie zu aktuellen Fragen der sozialen Gerechtigkeit. 2016 erhielt der den Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann.
Misstrauen und Demokratie (Einleitung)
Die Misstrauensgesellschaft
Die drei Dimensionen der Gegen-Demokratie
Der Mythos vom passiven Bürger
Entpolitisiert oder unpolitisch?
Die Geschichte der Demokratie neu lesen
I Die Überwachungsdemokratie
Überwachen, denunzieren, benoten
Die Wachsamkeit
Die Denunziation
Die Benotung
Die Aufpasser
Der wachsame Bürger
Der neue Aktivismus
Das Internet als politische Form
Funktionale Aufsicht durch unabhängige Behörden
Interne Prüfungs- und Bewertungsagenturen
Der Lauf der Geschichte
Drei Phasen
Demokratischer Dualismus: eine lange Geschichte
Die unmögliche Institutionalisierung
Legitimitätskonflikte
Feder und Tribüne
Die drei Legitimitäten
Die neuen Wege der Legitimität
II Souveränität als Verhinderung
Vom Widerstandsrecht zur komplexen Souveränität
Widerstand und Zustimmung in mittelalterlichen Theorien
Das Zeitalter der Reformation
Aufklärung, negative Macht und die Volkstribunen
Das Experiment der Französischen Revolution
Fichte und die Idee eines modernen Ephorats
Ein signifikantes Vergessen
Die selbstkritischen Demokratien
Klassenkampf als negative Politik
Die Metamorphosen der Opposition
Rebell, Widerstandskämpfer, Dissident
Der Niedergang der kritischen Dimension in den Demokratien
Die negative Politik
Das Zeitalter der "Abwahlen"
Prävention und Veto-Macht
Schwache Demokratie
III Das Volk als Richter
Historische Referenzen
Das Beispiel Griechenland
Das englische impeachment
Der amerikanische recall
Die Quasi-Gesetzgeber
Die demokratische Jury
Die Produktion konkurrierender Normen
Schattenlegislatoren
Die Vorliebe für das Urteil
Zur Verrechtlichung des Politischen
Das Rechtfertigungsgebot
Die Pflicht zur Entscheidung
Der aktive Betrachter
Die Macht der Theatralität
Der Raum des Exemplarischen
Wählen und Urteilen
IV Die unpolitische Demokratie
Ohnmachtsgefühle und Formen der Entpolitisierung
Das Zeitalter des Unpolitischen
Der Horizont der Transparenz
Die beiden Formen der Entpolitisierung
Die populistische Versuchung
Eine Pathologie der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie
Populismus und Gegen-Demokratie
Lektionen in unpolitischer Ökonomie
Ein Wort kehrt zurück
Die ökonomische Funktion der Überwachung
Der Markt oder Triumph des Vetos
Unpolitische Ökonomie
Das gemischte System der Moderne (Schluss)
Die neuen Wege der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie
Die Gegen-Demokratie konsolidieren
Die Demokratie repolitisieren
Das gemischte System der Moderne
Der Gelehrte und der Bürger
Bibliografie
Personenregister
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- Artikel-Nr.: SW9783868549263