Wutbürger

POLITIKUM 2/2017

„Wutbürger“ war das Wort des Jahres 2010. „Erfunden“ hatte es der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit. Bezogen auf Stuttgart 21 und die Sarrazin-Debatte schrieb Kurbjuweit im Oktober 2010 in einem Spiegel-Essay: „Eine Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft, das ist der Wutbürger. Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker.“ Die Gesellschaft... alles anzeigen expand_more

„Wutbürger“ war das Wort des Jahres 2010. „Erfunden“ hatte es der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit. Bezogen auf Stuttgart 21 und die Sarrazin-Debatte schrieb Kurbjuweit im Oktober 2010 in einem Spiegel-Essay: „Eine Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft, das ist der Wutbürger. Er bricht mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, also Gelassenheit, Contenance. Der Wutbürger buht, schreit, hasst. Er ist konservativ, wohlhabend und nicht mehr jung. Früher war er staatstragend, jetzt ist er zutiefst empört über die Politiker.“ Die Gesellschaft für deutsche Sprache sah das Wort als Ausdruck für die Empörung der Bevölkerung, „dass politische Entscheidungen über ihren Kopf getroffen werden“.

Mittlerweile gehört der Begriff zur politischen und medialen Diskussion in Deutschland. Doch hat man mehr und anderes im Sinn, wenn vom „Wutbürger“ gesprochen wird. Einerseits hat sich seine Bedeutung ausgeweitet, andererseits verengt. Ausgeweitet hat er sich in drei Richtungen:

1. Der Wutbürger richtet seine Empörung nicht mehr nur gegen Politiker, sondern gegen alle sogenannte Eliten in der Gesellschaft: neben Politikern sind dies u. a. Medienvertreter und Wissenschaftler. Seine Wut richtet sich aber auch gegen Minderheiten wie Migranten, insbesondere Moslems, Behinderte, Homosexuelle usw.

2. Der „Wutbürger“ repräsentiert die Spitze eines Prozesses, der als „zunehmende Erhitzung des emotionalen Klimas“ (Dorothea Franck) beschrieben werden kann und mit dem ein Verfall kooperativer Umgangsformen, Wellen der Feindseligkeit, der Aufhetzung, des Hasses sowie eine Verrohung der Sprache einhergehen.

3. Mit dem Wutbürger werden auch diffuse Ängste und Sorgen, Gefühle des Übergangen- und Abgehängtseins verbunden.

Verengt hat sich der Begriff, in dem er heute fast nur noch im Zusammenhang mit rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien wie Pegida und AfD verwendet wird.



Prof. Dr. Nils C. Bandelow

ist Professor für Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.

Prof. Dr. Anja Besand

ist Professorin für die Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden.

Dr. Robert Feustel

ist Mitautor des „Wörterbuch des besorgten Bürgers“.

Prof. Dr. Hajo Funke

ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.

Alexander Häusler

ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter des Forschungsschwerpunktes Rechtsextremismus/Neonazismus (www.forena.de) der Hochschule Düsseldorf.

Prof. Dr. Eckhard Jesse

ist emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz und Herausgeber des Jahrbuches Extremismus & Demokratie seit 1989. Er war Sachverständiger beim Verbotsprozess gegen die NPD im März 2016.

Dr. Carsten Koschmieder

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Prof. Dr. Beate Küpper,

Dipl.-Psych. ist Professorin für Soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit“ und Koautorin der FES-Mitte-Studie 2016.

Prof. Dr. Werner J. Patzelt

ist Professor für Politikwissenschaft, Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich, an der TU Dresden.

Dr. Colette S. Vogeler

ist Post-Doc im Fach Politikwissenschaft an der TU Braunschweig.



Wutbürger



Nils C. Bandelow und Colette S. Vogeler

Warum eskalieren Protestbewegungen?



Beate Küpper

Wut, Verachtung, Abwertung

Wutbürger und ihre Angst vor Statusverlust



Interview mit Robert Feustel

Die Sprache des „besorgten Bürgers“



Alexander Häusler

Die AfD: Eine Partei des rechten Wutbürgertums



Carsten Koschmieder

Wut oder Angst? Warum die AfD gewählt wird



Pro & Contra

Bringen Wutbürger die Demokratie in Gefahr?



Die Gefährdung ist nicht mehr zu leugnen

von Hajo Funke



Die Selbstheilungskräfte der Demokratie

von Werner J. Patzelt



Forum



Anja Besand

Therapeutische Zuwendung oder strategische Abwendung?

Rechtspopulismus und politische Bildung



Eckhard Jesse

Der liberale Rechtsstaat hat gesiegt. Kein Verbot der rechtsextremistischen NPD



Rezensionen + Literaturtipps

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